Die Geschichte der Westfälischen Zellstoff Aktiengesellschaft, Wildshausen

zusammengestellt von Karl-Heinz Kordel.

Der auf kaum einer Karte verzeichnete Ort Wildshausen war über viele Jahre fast gleichzusetzen mit der "Westfälischen Zellstoff AG 'Alphalint’", die mit etwa 360 Beschäftigten einen wichtigen Gewerbezweig für Freienohl und Oeventrop ausmachte. Wenn der Westwind wehte und in Wildshausen gerade die Zellstoffkocher geleert wurden, dann war es - nicht nur für empfindliche Nasen - bis nach Freienohl hin zu riechen und die alten Leute sagten: "Wildshausen stinket, et Biet woer Ränen".

Die alte Zellstofffabrik 1883 bis 1931

Schon 1873 war in Wildshausen gegenüber der auf dem anderen Ruhrufer liegenden Burgruine Wildshausen (die erstmals im Jahr 1310 urkundlich erwähnt wurde) mit dem Bau einer Holzschleiferei begonnen worden. Diese mit Wasserkraft betriebene Holzschleiferei diente der aufstrebenden Papierindustrie als Rohstofflieferant. Als die Holzschleiferei Wildshausen die ersten zehn erfolgreichen Jahre hinter sich hatte, entschloss man sich, ihre Basis zu erweitern. Wenige Jahre nach der Erfindung des Sulfitverfahrens wurde neben der Holzschleiferei eine der ersten Sulfitzellstofffabriken gebaut, eine „Holzkochanlage mittels saurer schweflichsaurer Salze betreffs Gewinnung von Papierzellstoff" wie es in der

Genehmigungsurkunde vom 26. November 1883 - ausgestellt von der Königlich preußischen Regierung zu Arnsberg - wörtlich heißt. 1889 - also nur sechs Jahre später - hat sich das Unternehmen aus eigener Entscheidung mit der schlesischen Zellstoff- und Papierfabrik Oberleschen vereinigt unter der neuen Firmenbezeichnung „Verein für Zellstoffindustrie AG". Dieser Verein erwarb im Jahr 1926 die „Kostheimer Zellstoff- und Papierfabrik, Mainz-Kostheim". Die neue Gesellschaft firmierte „Vereinigte Zellstoff- und Papierfabriken Kostheim-Oberleschen AG, Mainz". Diese Gesellschaft errichtete in Mainz-Kostheim eine für damalige Verhältnisse große Zellstoffabrik.

Die folgenden Krisenjahre führten die deutsche Zellstoffindustrie zu einem internationalen Abkommen, welches eine Produktionsdrosselung von 30% vorsah. Das Werk Wildshausen musste im Jahr 1931 seine Tore schließen und seine verbliebene geringe Produktionsquote dem jüngeren Werk in Mainz-Kostheim überlassen.

Die neue Zellstofffabrik 1936 bis 1990 - Westfälische Zellstoff AG


Aufnahme vom Bau der neuen Zellstoffwerks in Wildshausen vom 02.08.1937

Die aufstrebenden „Vereinigte Zellstoff- und Papierfabriken Kostheim-Oberleschen AG", zu dem das stillstehende Werk Wildshausen gehörte, wurden im Frühjahr 1936 von der Zellstoff-Fabrik Waldhof gekauft. In dieser Zeit liefen in Deutschland auch schon die beiden Vierjahrespläne der NS-Zeit auf vollen Touren, deren erster die Beseitigung der Arbeitslosigkeit und deren zweiter die Unabhängigkeit von ausländischen Rohstoffen - (in diesem Fall Baumwolle) - zum Ziel hatten. Das Gelände in Wildshausen bot sich zur Errichtung des ersten Chemiefaserzellstoffwerks als Rohstofflieferant für die ebenfalls entstehenden Zellwollefabriken an. Wildshausen liegt mitten in dem buchenreichen Sauerland und hatte damit eine sichere Rohstoffbasis in einem Holzsortiment, das bis dahin nur als Brennholz und für die Holzverkohlung Verwendung fand. Die Hilfsstoffe wie Wasser, Kohle, Schwefelkies, Kalksteine und die erforderlichen Chemikalien kamen aus der nächsten Umgebung und es gab bereits einen Anschluss an die Eisenbahnverbindung Köln-Kassel.

Nachdem die Zellstofffabrik Waldhof die Errichtung eines eigenen Chemiefaserzellstoffwerks in Wildshausen damals ablehnte, wurde unter dem Einfluss staatlicher Wirtschaftsstellen nach langen Verhandlungen, die sich in ihrer entscheidenden Phase über das ganze Jahr 1936 hinzogen, am 1. Dezember 1936 die Westfälische Zellstoff Aktiengesellschaft gegründet. Der gesamte bebaute und unbebaute Grundbesitz wurde damals von Waldhof zum Preis von RM 200.000,- erworben. Das Grundkapital in Höhe von RM 2.190.000,- wurde von den Gründern, die sich aus Waldbesitzern, Holzhändlern, Maschinen- und Hilfsstofflieferanten sowie einer ausländischen Gesellschaft zusammensetzten, übernommen. Dazu gab es noch einen reichsverbürgten Kredit von RM 4.000.000,- Am 1. Mai 1937 erfolgte die feierliche Grundsteinlegung und schon 13 Monate später lief im Juni 1938 die Produktion erstmals an.


Aufnahme vom 23.10.1937 vom Bau des Zellstoffwerks. Im Hintergrund ist Glösingen und Dinschede zu sehne.

Große Abwasserprobleme für das Werk

Die vielen neuen Technologien, deren es für das neue Produkt bedurfte, brachten ebenso viele neue Probleme mit sich, die nicht so schnell zu lösen waren. Im Jahr 1939 wurde das Werk aus Abwassergründen für fast ein dreiviertel Jahr polizeilich geschlossen. Versehen mit härtesten Auflagen, auch noch aus heutiger Sicht betrachtet, wurde dann nach dem Umbau einiger Anlagen Buchenzellstoff für die Chemiefaserindustrie mit einem Bruchteil der heutigen Mengen und in entsprechender Kriegsqualität erzeugt. Das Grundkapital wurde von 1938 bis 1939 stufenweise auf RM 6.300.000,- erhöht. Der neue Großaktionär war die „Thüringische Zellwolle Aktiengesellschaft, Schwarza", mit 46% des Grundkapitals.

Das Unternehmen firmierte jetzt als „Westfälische Zellstoff-Aktiengesellschaft „Alphalint"'. Das Werk Peschelmühle beschäftigte sich nur mit der Veredelung von Zellstoffen, nicht mit der Zellstoff-Fabrikation selbst. Es wurde nach Kriegsende 1945 entschädigungslos enteignet. - Im Jahr 1941 wurden die Werksanlagen der „Cellulosefabrik Höcklingsen Dr. Kumpfmiller & Co.", Höcklingsen bei Hemer, erworben. Dort wurde Zellstoff und Papier hergestellt. Diese Fabrik, die keinerlei Reinigungsanlagen für Abwasser besaß - wie das damals üblich war -, wurde 1943 noch während des Krieges stillgelegt, verwertet und verschrottet. Die Gesellschaft wollte mit der Stilllegung einen besonderen Beitrag zur Reinhaltung der Ruhr leisten. Es wäre aus späterer Sicht sicher besser gewesen, wenigstens die Papierfabrik mit ihrem festen Kundenkreis zu erhalten.

Im Jahr 1943 wurde in Wildshausen eine zusätzliche Fabrikation für Eiweißgewinnung errichtet. Lesen Sie hiezu den Artikel „Die Wildshauser Holz- bzw. Leberwurst, 1943-1949“.


Die Arbeiter und Arbeiterinnen des alten Zellstoffwerks (vor 1931) -
alle Männer mit Hut. Im Hintergrund die werkseigene Dampflok

Die Währungsreform 1948

Im Jahre 1948 kam die Währungsreform. Die Aktionäre schnitten nicht schlecht ab, denn die Gesellschaft sah sich in der Lage, das Kapital von RM 6,3 Mill. im Verhältnis 1:1 umzustellen.

Dankbar waren die damaligen Aktionäre der Thüringischen Zellwolle AG sicher auch den Senioren des Hauses van Delden in Gronau, die es an führender Stelle übernommen hatten, den westlichen Wertbesitz des enteigneten Großaktionärs, der Thüringischen Zellwolle AG, Schwarza in Thüringen, so gut wie möglich zu retten. Das war nicht so leicht, wie es sich anhört, und es gelang auch nicht überall. In einer Hauptversammlung 1949 in München waren rund ein Drittel des Aktienkapitals von RM 31,7 Mill. der Thüringischen Zellwolle vertreten. Die tumultartige Versammlung hat die Sitzverlegung der Thüringischen Zellwolle nach Gronau beschlossen.

Sie fungierte in der Folgezeit als Holdinggesellschaft und war bis zur Verschmelzung mit einer Beteiligung von 73,5°/o an der Westfälischen Zellstoff AG absoluter Mehrheitsaktionär.

Die Jahre nach der Währungsreform 1948

Wie fast die ganze Industrie erlebte die Westfälische Zellstoff AG in den Jahren nach 1948 einen Aufschwung, der zwar nicht ungetrübt und sorglos verlief, aber mit gewissen Einbrüchen dennoch eine ständige Aufwärtsbewegung zur Folge hatte. An einen größeren Fabrikausbau im Werk Wildshausen war aus Abwassergründen nicht zu denken. Auch die Palette der in der Zukunft benötigten Zellstoffsorten war aus denselben Gründen nicht breit genug. Infolgedessen wurde ein Bau eines neuen Chemiefaserzellstoffwerks auf Buchenholz-Basis auf der grünen Wiese geplant und ausgeführt.

Nach langer Suche wurde in Bonaforth bei Hannoversch-Münden ein passendes Gelände gefunden: mitten im Holzgebiet des Reinhardswaldes und Weserberglandes, die Fulda als noch gut geeignetes Fabrikationswasser, die größere Weser als Vorfluter für Abwässer, an der Bahnlinie Kassel-Göttingen gelegen, mit Braunkohlegruben in der Umgebung und dem Großkunden Spinnfaser AG, Kassel, in allernächster Nähe. Nachteilig war die geringe Größe des Grundstücks und auch die Stadtnähe von Hann. Münden, beides wurde jedoch in Kauf genommen.


Das neue Werk in Bonaforth bei Hannoversch-Münden

Eine entscheidende Voraussetzung für die Standortfindung war auch, dass das Gelände im Zonenrandgebiet lag, mit den daraus resultierenden Finanzierungshilfen für einen Neubau. Gerade auch wegen der schwierigen Finanzierung wurde die Fabrik Bonaforth in zwei Stufen gebaut, die erste Anlage ging im Dezember 1956, die zweite im Frühjahr 1962 in Betrieb.

Beide Anlagen hatten einen sehr guten Start und produzierten von den ersten Tagen an verkaufsfähige Ware und mehr als die geplante Menge. Im Zusammenhang mit dem Neubau wurde das Grundkapital 1957 auf DM 10,0 Mill. und 1960 auf DM 15,0 Mill. erhöht.

In der Folgezeit gab es wie immer Höhen und Tiefen, die Zellstoffläger füllten und leerten sich, aber beide Werke produzierten fast immer voll durchlaufend. Stilllegungen von Großabnehmern auf dem Zellwollsektor mussten verkraftet werden.

„Westfälische Zellstoff Aktiengesellschaft, Wildshausen"

Am 14. 4. 1972 hatte zwischen der „Thüringischen Zellwolle Aktiengesellschaft, Gronau", und der „Westfälischen Zellstoff-Aktiengesellschaft „Alphalint', Wildshausen", die Verschmelzung auf der Grundlage der jeweiligen Jahresabschlüsse zum 31. Dezember 1971 stattgefunden. Die neu gegründete Gesellschaft trug seitdem wieder ihren ursprünglichen Namen „Westfälische Zellstoff Aktiengesellschaft, Wildshausen". Das Grundkapital belief sich auf DM 16,0 Mill. Im Jahr 1975 wurde das Grundkapital zum Zwecke der Kapitalrückzahlung zum Nennbetrag um 50% auf nunmehr DM 8,0 Mill. herabgesetzt.


Die Schwefelanlage vom 24.03.1975

Die Absatzgruppenstruktur wurde in der Vergangenheit in Anpassung an geänderte Verhältnisse sukzessive verändert. So lieferte die Firma zum Beispiel für Zellwolle 1970 noch 67%, im ersten Halbjahr 1976 nur noch 12,5%, für Zellglas im Jahr 1970 nur 20%, im ersten Halbjahr 1976 bereits 51,1%, für die übrige Chemie im Jahr 1970 rd. 13%, im ersten Halbjahr 1976 schon 36,2%. Der Exportanteil, der in den vergangenen Jahren durchschnittlich 11% ausmachte, lag 1976 bei 21%, er hatte sich also verdoppelt.

Das erste Halbjahr 1976 brachte vom Absatz her gesehen weitere günstige Auswirkungen durch den Zugewinn und die Festigung der Zusammenarbeit mit neuen Kunden.

Wildshausen hatte für rund 90% seiner Produktion nur drei und Bonaforth für rund 80°/o seiner Produktion nur zwei Kunden.

Das Ende der Westfälischen Zellstoff AG

In den nachfolgenden Jahren standen öfters dunkle Wolken über dem Werk. 1986 betrug das Defizit in Bonaforth allein 6,5 Mio. DM. Höhere Umweltauflagen und der Ölpreisverfall bei fallendem Dollarkurs führte zu vielen Problemen. Der Zellstoff war im Ausland nicht mehr an den Mann zu bringen.

Am 28. September 1990 wurde auf Grund wirtschaftlicher Probleme das Vergleichsverfahren eröffnet. Rechtsanwalt Rainer Salmen aus Dortmund stellte als vorläufiger Vergleichsverwalter beim Amtsgericht Arnsberg den Antrag auf Eröffnung des Konkursverfahrens. Eine von ihm durchgeführte Überprüfung der wirtschaftlichen Eckdaten des Unternehmens hatte ergeben, dass der angestrebte Vergleich „nicht erfüllbar“ war. Das Konkursverfahren wurde am 12. Oktober 1990 eröffnet.

Das hieß im Klartext, dass in Wildshausen und Bonafarth, wo die Hauptschwierigkeiten in betrieblicher Hinsicht gelegen haben sollen, 420 Beschäftigte – davon 183 in Wildshausen - auf der Straße standen. Viele von Ihnen gehörten bereits 40 Jahre und mehr dem Betrieb an.

Die Landesentwicklungsgesellschaft NRW wurde vom Land NRW mit der Vorbereitung und Durchführung des Erwerbs sowie mit der Freilegung, Baureifmachung und Wiederveräußerung des Geländes als Gewerbe- und Industriefläche beauftragt.


Der letzte Arbeitstag. v.l.n.r.: Antonius Kordel, Hubert Bräutigam, Ralf Mieth und Willi Zillmer.
Im Hintergrund hängt ein Schild mit folgender Aufschrift: Maschinen, maschinelle Anlagen und sämtl.
Lagerbestände sind Sicherungseigentum der Dresdener Bank AG

 

 

Am 06. März 1992 um 14.01 Uhr erfolgte die Sprengung des 100m hohen Kamins. 18 Kilo Sprengstoff, verteilt auf 60 Bohrlöcher, waren nötig, um den Schornstein in einen großen, rauchenden Ziegelstein-Trümmerhaufen, zu legen. In den folgenden Monaten erfolgten der weitere Abriss der Betriebsgebäude und die Beseitigung der Altlasten.

 

Für technisch Interessierte hier nun auch der Produktionsablauf zur Gewinnung des Zellstoffs.

Die Gewinnung des Zellstoffs ist ein komplizierter Prozess. Das Buchenholz enthält ca. 40 Prozent verwertbare Zellulose, die in einem weitgehend mechanisierten und sehr kapitalintensiven verfahren so gewonnen wird:

In der Hackerei wird das Holz in kleine Schnitzel zerhackt und von dort in die Silos der Sulfitkocherei befördert. Die für den Kochprozess benötigte Kaciumbisulfitsäure wird aus Schwefelkies und Kalksteinen in der Weise hergestellt, dass in einem Säureturm Wasser über Kalksteine rieselt, während das aus dem Abrösten von Schwefelkies gewonnene Schwefelsäuregas entgegenströmt. Das Holz wird in den Zellstoffkochern unter längeres Kochen unter Druck von Lignin und anderen verholzenden Bestandteilen befreit, während die Zellulose zurückbleibt.

In der Aufbereitung und Sortierung werden nicht völlig erweichte Holzstücke und mechanische Unreinigkeiten aus dem Zellstoff aussortiert. Nach wiederholten Reinigungs- und Waschprozessen wird der Stoff in der Bleicherei und Veredelung nach dem Mehrstufenverfahren mit flüssigem Chlor, Natronlauge, Natriumhypochlorit und schwefliger Säure gebleicht und teilweise veredelt. Der gebleichte Stoff wird nachsortiert und auf der Entwässerungsmaschine in Pappenform herausgefahren.
Die Energieerzeugung liefert den für das Kochen des Holzes sowie das Bleichen, Veredeln und Trocknen des Zellstoffs benötigten Dampf gleichzeitig mit der für die Fabrikation erforderlichen Kraft. Die beim Kochen des Holzes in Lösung gegangene Substanz wird in der Eindampfanlage auf eine Konsistenz gebracht, die seine Verwendung als Brennstoff gestattet. Bleicherei-, Veredelungs- und restliche aus der Sulfitkocherei stammende nicht eingedampfte Abwässer werden weitgehend von Schwebestoffen in mechanischen Klärbecken befreit und in den Vorfluter abgelassen.

Buchzellenstoff ist ein wichtiger Ausgangsstoff der Wirtschaft. Er dient als Rohstoff für die Herstellung von Chemiefasern, vor allem Zellwolle, Papier, Kunststoffen, wie z. B. Zellglas, und verschiedenen anderen Produkten.

 


Literaturnachweis:
40 Jahre Westfälische Zellstoff AG, v. Ludwig Hanselmann, apr. 50/51 - 1976
Wildshausen von Josef Düring, Januar 1995 seit 1937 in der Firma, seit 1946 Leiter des allgemeinen Einkaufs
Sonderbeilage der Westfalenpost, 1957 - Alphalint-Werke verarbeiten im Jahr 300.000 Raummeter Buchenholz
Westfälische Rundschau v. 19.04.1986
Westfälische Rundschau v. 10.10.1990,
zusammengestellt von Karl-Heinz Kordel

Fotos:
alle Fotos und Artikel befinden sich in der Sammlung von Antonius Kordel, Freienohl